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Da bleibt mir die Spucke weg

xafford / 42 Antworten / Flachansicht Nickles

Genau geht es um folgendes:

http://www.spiegel.de/politik/debatte/0,1518,505981,00.html

Erst mal vorweg, es geht mir dabei nicht um die Abwägung, ob man 200 Leben opfert um eventuell 2000 zu retten. Da bin ich (wenn ich ganz ehrlich bin) selbst am Wanken. Wären wirklich alle anderen Mittel ausgeschöpft und es wäre absolut klar, dass die Insassen der Maschine ohnehin keine Aussicht mehr auf ein Überleben hätten, wäre es aber sicher, dass das Flugzeug Tausende Menschen töten würde, so wüsste ich selbst nicht wie ich in diesem Fall entscheiden würde. Ich tendiere persönlich auch zu einem Abschuss, aber dies ist ohnehin reine Theorie, da der Fall so wohl nie eintreten wird.

Was mich wirklich fast schockiert ist aber folgendes bzw. folgende Aussagen:


Jung räumte zwar ein, dass das Bundesverfassungsgericht den Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeuges auf die Fälle beschränkt habe, in denen nur Terroristen und keine Unschuldigen an Bord seien. "Aber wenn es eine gemeine Gefahr ist oder die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dann gelten andere Regeln."


Man muss sich diese Aussage einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ein auf die Verfassung vereidigter Minister sagt hier in aller Öffentlichkeit er fühle sich nicht an die Verfassung gebunden, wenn er der Meinung ist es läge eine gefährliche Situation vor.

Zudem der Bezug auf andere Regeln ist hier ein delikates Schmankerl. Diese anderen Regeln nennen sich Notstandsverfassung oder Notstandsgesetze die im V-Fall, der jedoch nur auf einen bewaffneten Angriff von Außen hin inkraft treten können und zu diesen weiter unten mehr.


Jung sagte dem Magazin, dass in Abstimmung mit der Luftwaffe für einen möglichen Abschuss nur Piloten fliegen sollten, die auch vor dem Hintergrund der schwierigen rechtlichen Frage dazu bereit wären, den Befehl auszuführen.


Noch ein geradezu grotesker Kalauer: Ein klares und eindeutiges Verbot durch unser höchstes Verfassungsorgan wird als "schwierige rechtliche Frage" bezeichnet. Man kann es drehen und wenden wie man will: Es gibt keine schwierige rechtliche Frage, es ist schlicht und ergreifend Verfassungswidrig, auch noch der Notstandsgesetzgebung (siehe unten).


Das Bundesverfassungsgericht verbot damals die Abwägung "Leben gegen Leben" als Verstoß gegen das Grundgesetz.


Punkt! Siehe oben. Unschwieriger kann an es rechtlich wohl nicht formulieren.


Mit seinem [es ging hier um Schäuble, Anm. von mir] Vorschlag, einen Terrorangriff per Flugzeug als "Quasi-Verteidigungsfall" zu werten, in dem dann die Regeln des Kriegsvölkerrechts gelten sollten, stießen beim Koalitionspartner SPD auf heftige Kritik.


So weit ich mich noch erinnere, gibt es keine Option etwas als Verteidigungsfall zu werten, schon garnicht aus der Position eines Ministers heraus. So lange der Bundestag noch handlungsfähig ist, beschließt dieser ggf. das Eintreten des Verteigigungsfalles auf Antrag der Regierung, der Bundesrat segnet ihn ab.
Selbst wenn (im extrem theoretischen Fall) das Parlament nicht mehr handlungsfähig wäre würde erst einmal eine Notstandsverfassung inkraft treten, und diese setzt das vom Verfassungsrecht für die Urteilsbegründung angeführte Grundrecht ebenso wenig ausser Kraft. Ein Abschuss wäre also auch in einem Notstand noch verfassungswidrig.

Es ist schon bedenklich, wie mittlerweile offen von Regierungspolitikern oder Politikern im Allgemeinen unser Grundgesetz (aka Verfassung) mittlerweile im Tagestakt unter Beschuss genommen wird oder wie sie es anscheinend als Nebensächlichkeit einordnen bzw infrage stellen. Es gehört wohl mittlerweile zum guten Ton hier alle Hemmungen fallen zu lassen. Dies passt zur Entwicklung der letzten Jahre das BVerfG mit Arbeit zu überschütten, indem man sehenden Auges Gesetze verabschiedet, die der Verfassung zuwider laufen und die Ablehnugn durch das BVerfG dann auch noch für Schmähkritik gegen dieses nutzt und sein Ansehen beschädigt.

Ich bin mal gespannt, wann sich der erste traut das BVerfG als soclhes infrage zu stellen.

Schlussendlich finde ich es noch bedenklich, dass ein Minister die Notstandsgesetzgebung so gedankenlos ins piel bringt. Eine der dunkelsten Epochen neuerer Geschichte begann mit Notstandsgesetzen und die Voraussetzungen damals waren nicht so viel anderst als sie es heute sind. Ich hoffe einmal diese Äußerungen des Hernn Jung werden die gebührende Entrüstung hervor rufen und ihn diesen wichtigen Ministerposten kosten.

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xafford Nachtrag zu: „Da bleibt mir die Spucke weg“
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Noch eine äußerst interessante rechtliche Perspektive zu dem sagenumwobenen "Übergesetzlichen Notstand", den es so überhaupt nicht gibt (für mich klang es wie ein Bezug auf etwas anderes). Zumindest gibt es ihn nicht unter diesem Namen und nicht für den Staat.

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506146,00.html

Somit hätten wir also streg genommen den Fall eines auf die Verfassung vereidigten Verteidigungsminister, der jetzt wiederholt ankündigt entgegen klaren gesetzlichen Verbotes (und es ist klar verboten, nicht wie die üblichen Verdächtigen behaupten nur gesetzlich nicht eindeutig geregelt) durch die Verfassung und das Verfassungsgerichtes einen Rechtsbruch (besser gesagt: Verfassungsbruch) begehen zu wollen.

Nochmal: Ganz abgesehen von einer moralischen Abwägung eines Abschusses, es würde die Büchse der Pandorra öffnen, wenn sich der Staat auf übergesetzlichen Notstand berufen dürfte, denn damit liese sich letztendlich komplett jede Aktion seitens des Staates rechtfertigen, die auch nur entfernt die Option böte Leben zu schützen (und ich benutze hier absichtlich nicht die Formulieren "Leben zu retten") oder eine (auch vermeintliche) Bedrohung der freiheitlich-demokratischen (oder auch der Wirtschaftsordnung) Grundordnung abzuwenden.

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