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News: Cloud für Web-Anwendungen

Neues Betriebssystem von Microsoft

Redaktion / 7 Antworten / Flachansicht Nickles

Software wird typischerweise auf einem PC lokal genutzt und von dessen Prozessor angetrieben. Bei Web-Anwendungen spielt sich die Sache anders ab. Über den Internet-Browser wird eine Anwendungssoftware auf einem fernen Webserver gestartet und mit Daten gefüttert, die dann auch der Webserver verarbeitet.

Aktuelle Beispiele für derlei Web-Software sind beispielsweise Googles Online-Office-Anwendungen. Jetzt hat Microsoft überraschend ein neues Betriebssystem namens "Windows Cloud" angekündigt, dass für solche Web-Anwendungen gedacht ist. Cloud soll noch in diesem Monat veröffentlicht werden und Entwicklern die Anfertigung von Web-Anwendungen erleichtern.

Mit der Idee ist Microsoft nicht alleine, inzwischen bieten auch viele andere Hersteller solche "Cloud"-Lösungen an. Der wachsende Trend zu Cloud-Anwendungen lässt Datenschützer zunehmend Alarm schlagen. Wer seine Anwendungsdaten auf fremden Rechnern verarbeiten lässt, geht selbsterklärend unkalkulierbare Risiken ein.

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dl7awl Redaktion „Neues Betriebssystem von Microsoft“
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Das wäre ja mal was ganz Neues, dass Microsoft einigermaßen zeitnah Trends erkennt!

Aber Spaß beiseite, mich beunruhigt diesmal nicht Microsoft, sondern die Entwicklung an sich.

Der wachsende Trend zu Cloud-Anwendungen lässt Datenschützer zunehmend Alarm schlagen. Wer seine Anwendungsdaten auf fremden Rechnern verarbeiten lässt, geht selbsterklärend unkalkulierbare Risiken ein.

Ich sage nur: mein Horrorszenario. Und der Gipfel der Entmündigung. Denn leider geht es bei dem Trend um mehr als "nur" um die Gefahr, dass ein paar Anwendungsdaten in falsche Hände kommen können. Das sehen viele nicht, und die ersten unbelehrbaren "ich habe ja nichts zu verbergen"-Rufer stehen sicher schon bereit, um willig mitzuspielen. Und das zeigt, was die eigentliche Gefahr ist und mich viel mehr beunruhigt, nämlich einmal mehr die auch mit diesem Trend intendierte und weithin widerspruchslos akzeptierte zunehmende Konzentration von Macht.

Leider ist nicht zu übersehen, dass es wirklich unaufhörlich in die Richtung geht. Sind wir auf unserem PC noch Herr im Haus? Schon heute ist er ohne Internet-Anbindung nur noch eingeschränkt nutzbar und arbeitsfähig - man denke nur daran, wie gierig OS und alle möglichen Anwendungen nach längerer Betriebspause erstmal "nach Hause telefonieren", sobald man das Netzwerkkabel reinsteckt...

Irgendwie sind wir vielleicht bald wieder da, wo wir zu Zeiten der antiken Großrechner schon mal waren: die Rechenleistung ist zentral und an den Arbeitsplätzen gibt's nur dumme Terminals ohne eigene Fähigkeiten. Und doch wäre das heute nicht dasselbe wie dunnemals, sondern schlimmer. Denn damals waren Daten und Rechenleistung in abgeschotteten, klimatisierten Räumen untergebracht, zu denen nur hochkarätige Spezialisten Zugang hatten. Und derlei "Zentralismus" hatte damals vor allem sachliche Gründe. Es gab noch keine Begehrlichkeiten in Bezug auf Daten, sondern deren Verarbeitung stand im Vordergrund.

Damals wurde in Timesharing-Systemen die kostbare Rechenzeit nach Millisekunden oder CPU-Takten abgerechnet. Heute ist Rechenleistung so billig geworden, dass potenziell für jeden Erdbewohner mehr als genug davon da sein könnte. Zentralistische Konzepte der Großrechner-Ära haben sich folgerichtig weitestgehend überlebt und Netzwerken mit verteilter lokaler Intelligenz Platz gemacht. So weit, so schön.

Und nun soll es doch wieder in Richtung Konzentration und zentralistische Konzepte gehen? Das ist heute zweifellos viel weniger als damals sachlich begründet, sondern eher interessengeleitet. Wie jede Konzentration, sei es von Macht, Geld, Ressourcen usw. halte ich auch diejenige von Daten und Informationen - und vielleicht sogar gerade die - für prinzipiell brandgefährlich. Übrigens auch deshalb, weil vergleichbare Entwicklungen auch in so vielen anderen Bereichen gleichzeitig statt finden.

Dezentralität und Vielfalt sind tragende Prinzipien von "Gesundheit" und Evolution, ganz gleich ob es um Biologie, Kultur, Forschung, Politik, Wirtschaft oder z.B. das kollektive Wissen geht. Es scheint sich dabei um ein recht allgemeingültiges Prinzip, quasi eine Art "Naturgesetz" (im sehr weiten Sinne) zu handeln, ganz unabhängig von den konkreten Inhalten. Entwicklungen der hier zu beklagenden Art sind also, wie so viele, sozusagen "gegen die Natur" gerichtet.

Wo immer unter der Regie von Wenigen eine Zusammenballung und Zentralisierung - egal von was - statt findet, kann das im Gesamten niemals Gewinn, sondern immer nur Verlust bedeuten, und wir nehmen es pausenlos hin: Verlust von Vielfalt, Verlust von Selbstbestimmung und breit gestreuter Handlungsfähgkeit, Verlust von Robustheit und Selbstregulierungsmechanismen. Wir erleben es gerade auf den Finanzmärkten. Selbst ausgebuffte Experten - oder die wir dafür hielten - wirken auf einmal so überrascht und tölpelhaft, als hätte ihnen gerade jemand den Nadelstreifen vom Leib gerissen und sie stünden plötzlich in Unterhosen da.

Übertragen auf die PC-Zukunft möchte ich sagen: ich möchte auf lokale Rechenkraft und meinen PC, auf dem ich wenigstens noch einiges selbst in der Hand habe, auch langfristig nicht verzichten. Zentrale Datenpools wie z.B. Wikipedia usw. gehen in Ordnung, wenn und solange sie kollektiver Kontrolle unterliegen. Sobald aber Konzerne die Macht und Kontrolle über immer mehr Wissen, Daten und Informationen haben, wird es gefährlich. Und zwar selbst dann, wenn es sich um "seriöse" Konzerne handelt, die "nur" Geschäfte machen wollen. Denn die Gefahr liegt ja nicht in der Intention, sondern in der Konzentration an sich. Konzentration ist immer verwundbarer als Streuung und Vielfalt.

Die Urväter des Internet wussten das übrigens noch. Der Legende nach wurde es von vornherein auf verteilte, dezentrale und redundante Strukturen und Konzepte ausgelegt, ohne unnötige Konzentration von Funktionalität, so dass selbst ein Atomschlag keine übergreifenden Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit würde haben können. Die gegenwärtige Entwicklung ist dabei, diesen Vorteil der inhärenten Robustheit zu verspielen. Überspitzt gesagt: funktionieren alle unsere Rechner bald nur noch, wenn sie mit Google verbunden sind?

Ich schrieb vor Jahren schon mal, wie sehr mich davor graust, dass über ganz reguläre Update-Mechanismen, die niemand mehr in Frage stellt, schon längst die theoretische Möglichkeit besteht, von "zentraler" Stelle aus fast alle PCs der Welt, zumindest aber alle bedeutsamen, auf einen Schlag lahmzulegen oder für beliebige Aktivitäten fernzusteuern.
Dass Microsoft (z.B.) vermutlich seriös genug ist, um diese Macht nicht zu missbrauchen (sie leben ja auch so ganz gut), besagt gar nichts. Bis vor Kurzem galten auch Banken noch als seriös. Aber selbst Seriosität ändert nichts daran, dass diese Macht potenziell da ist. Und allein das ist schon die prinzipielle Schwachstelle, denn was da ist, wird nach aller Erfahrung auch irgendwann genutzt. Zum Beispiel könnten Terroristen diese Macht an sich bringen und die Welt erpressen, alle Wirtschafts- und Machtbereiche subtil unterwandern oder eine Weltwirtschaftskrise nie gekannten Ausmaßes auslösen. Übertrieben? Nun, man erinnere sich nur mal daran, was allein im Zusammenhang mit dem vergleichsweise lächerlichen Y2K-Problem für horrormäßige Auswirkungen auf die gesamte Zivilisation für möglich gehalten wurden. Wohlgemerkt, auch von Fachleuten.
Ich sage nicht, dass so ein Szenario momentan wahrscheinlich ist. Aber ich sage, dass die zunehmende Konzentration von Macht, Wissen und Einfluss langfristig gefährlicher für die Menschheit sein kann als alle Atomwaffen der Welt zusammen. Vielleicht ist sie es längst, aber wir sehen es nicht, weil die Gefahr viel subtiler und weniger offenkundig ist als die von Atomwaffen...

Jetzt habe ich das alles geschieben, ohne ein einziges Mal den Begriff "Globalisierung" zu verwenden, obwohl genau der natürlich zweifellos hierher gehört. Aber er ist schon so abgegriffen, so zum gewohnten und irgendwie vertrauten "Henkel" für die gesamte Thematik geworden, dass er gerade dadurch auch Denken und Einsicht behindert. Wir müssen lernen, uns von Denkschablonen zu befreien.

Denn ich vermute, dass die - trotz aller Entmündigung bewahrte - Fähigkeit zum eigenständigen Denken und Schlussfolgern die allerwesentlichste Voraussetzung dafür sein dürfte, das Blatt zu wenden - falls das noch geht. Ist der allgemeine "Trend" überhaupt noch zu stoppen oder sind die dahinter stehenden Interessen viel zu mächtig? Ich weiß es nicht. Aber es kann nicht schaden, sich offene Augen und einen wachen Geist - sofern noch vorhanden - zu bewahren. So entgeht man am ehesten einer völligen schleichenden Vereinnahmung, bleibt ein Stückchen weit Subjekt und kann sich dem, was man nicht aufhalten kann, zumindest partiell entziehen. Wenn das genügend viele könnten und täten, wäre das übrigens schon die halbe Lösung.

Gruß, Manfred

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Einfach nur brillant!! Olaf19