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gerhard38 Max Payne „Das eine ist Theorie, das andere Praxis. Im Kapitalismus wird ein Mensch durch...“
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Ich war vor kurzem bei einem Vortrag wo es darum ging, wie die Wertschöpfung eines Landes verteilt werden soll. Der Vortragende Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher ist Professor für Künstliche Intelligenz und Mitglied des Nachhaltigkeitsbeirats von Baden-Württemberg, assoziiert mit dem "Club of Rome".
http://www.nachhaltigkeitsbeirat-bw.de/mainDaten/mitglieder/rade/rade.htm
Er besprach die Frage: Welche Verteilungsmuster erzeugen den größten Reichtum für alle? und stützte sich auf Analysen der Daten derzeitiger Staaten. In der Folge besprach er 3 Modelle, die ich für mich in etwa so zusammenfassen kann:

a) Alle kriegen das Selbe (Sozialismus, Kommunismus). Sieht zunächst "gerecht" aus, ist aber ein starres System, das der Individualität und dem Freiheitsbedürfnis der Menschen nicht gerecht wird und sehr leistungshemmend bzw. demotivierend.

Es haben hier alle die selbe Quote von einem kleinen Kuchen. Es könnte sein und ist auch so, dass selbst die kleinste Quote von einem großen Kuchen noch immer größer ist, wie die Gleichheitsquote vom kleinen Kuchen. Die Frage entsteht daher: Welche Mischung aus Ungleichheit erzeugt den größten Kuchen - und zwar derart, dass daraus der größte Reichtum UND die größte Zufriedenheit der Bevölkerung resultiert?

b) Wird die Ungleichheit zu groß, dann kommt es zu einer "Brasilianisierung": Strukturen großer Ungleichheit. Die Eliten (Bestverdiener, Vermögendsten) armer Länder sind so reich wie die Eliten der reichsten Länder. Solche Länder können dann ein BIP-Wachstum von 10% haben - aber nur die Eliten bekommen etwas davon. Wäre es so, dass bei einem 10% Eliten-Modell die Eliten dann > 10x so produktiv sind, könnte man argumentieren, dass sich das insgesamt für den Staat rechnet. Das wäre vergleichbar einem Wissenschafter, dem man alle Administration, die Lehre und alle sonstigen Arbeiten abnimmt (mit Hilfe billiger Hilfskräfte), damit er sich voll und ganz seiner Forschung widmen kann, wo dann Großartiges herauskommt (wie z. B. in Princeton). Die Erfahrung zeigt jedoch, dass in Ländern großer Ungleichheit die Eliten "satt" sind und nichts zur Produktivität des Landes beitragen. Sie können es sich, bildlich gesprochen, leisten, nichts zu tun und um einen Sklavenlohn Arbeitskräfte anstellen, die ihnen jede Arbeit abnehmen.

Der Kern für den sozialen Ausgleich ist nicht die Sozialhilfe, sondern
1. die Bildung der gesamten Bevölkerung. Reiche Systeme sind so reich, weil sie so viel in die Ausbildung der Kinder investieren.
2. Ein gutes Gesundheitssystem: Es ist äußerst unwirtschaftlich, wenn gut ausgebildete Menschen wegen eines Hustens sterben.
3. [hab ich nicht mitgekriegt, es war da noch ein Punkt]


c) Statt "Brasilianisierung" das Modell der EU: Diese schafft es, arme Länder zu integrieren, sodass dort der Lebensstandard der breiten Bevölkerung steigt, ohne dass die Reichen Länder gleichzeitig verarmen. Spanien oder Irland sei ein typisches Beispiel für so eine Entwicklung. Während man früher nach Spanien fuhr, weil es dort so billig ist, ist es jetzt dort gar nicht mehr billig - dafür kommen die Spanier jetzt zu uns auf Urlaub und zahlen damit indirekt die bei uns angemessenen Löhne. Man muss es allerdings "richtig" machen. Nur Geld "schenken", das zweckgebunden ist an z. B. Einkauf von Waffen des Geberlandes ist nicht der richtige Weg, das ist eine versteckte Subventionierung der eigenen Wirtschaft. Nur einfach geben, dass die Gelder dort in einem korrupten System bei den Eliten verschwinden, auch nicht. Das muss so kontrolliert geschehen, dass damit gerechnet werden kann, dass die Entwicklung dieses Landes nachhaltig gefördert wird. Und zum Unterschied zu b): Die Eliten in Europa lassen sich meist nicht nur bedienen und genießen das schöne Leben, sondern sie tun durchaus etwas als Unternehmer, Manager, etc.


Und da sind wir wieder bei der "Demokratie": Ich habe es mehr als einmal erlebt, dass die Politiker die größte Mühe haben dem Wähler klarzumachen, dass es bei einem EU-Beitritt auch "Nettozahler" gibt, und, obwohl man damit rechnen muss, bei den Nettozahlern zu sein, es für das große Ganze halt doch von Vorteil ist, beizutreten. Selbstverständlich machen damit andere politische Strömungen ihr Kleingeld: Durch Ansprechen des Egoismus versucht man den Leuten einzureden, dass das nachgerade Verbrecher sind, die Gesetze beschließen, bei denen das eigene Land "draufzahlt". Und sowas zieht. Daher müssen dann die Politiker irgendwie argumentieren, dass sich das insgesamt doch wieder rechnet, weil man dann neue Märkte hat etc. etc. Ist auch irgendwie peinlich so eine Argumentation. Speziell die Rolle der Gewerkschaften dabei: Während sie sonst den Mund nicht voll genug nehmen können bezüglich "Solidarität" und "sozialem Ausgleich" (= den "Reichen" wegnehmen und den "Armen" geben), aber wenn es darum geht, mit Arbeitern armer Länder solidarisch zu sein, hört sich die "Solidarität" schnell auf, da wird dann die Angst vor dem Polnischen Klemptner geschürt, der der eigenen Klientel die Arbeitsplätze streitig machen und die Lohn- und Sozialstandards, die man sich schon erkämpft hat, gefährden könnte.

Ich befürchte, wenn die Bevölkerung eines "reichen" Landes "demokratisch" befragt würde, ob ein armes Land in die Gemeinschaft aufgenommen werden soll, sodass der reiche Staat jetzt zum Nettozahler wird, wo man als Bürger des reichen Landes doch selbst gerne noch mehr hätte, gäbe es keine EU. Das derzeitig praktizierte Wahlsystem zielt immer auf die _kurzfristige_ Optimierung bzw. Erfüllung egoistischer Wählerwünsche. Eine derartige Erfolgsstory wie die EU - in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht gäbe es dann nicht. Die USA stehen vor dem Problem, dass dort 5% der Bevölkerung zwar die ganze Welt regieren, aber ein Teil der dermaßen Regierten nur noch im Terrorismus eine Möglichkeit sehen, sich gegen diese Art des Regiertwerdens zu wehren - ganz abgesehen von den permanten Kriegen, die die USA führen (müssen) und damit neuen Terrorismus generieren. Das kann man ruhig einmal mit der Situation in der EU vergleichen: Ein Friedensprojekt sondergleichen.

Gruß, Gerhard

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